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Der Vergangenheit eine Zukunft geben

Zweitzeugen-Workshop der Geschichtswerkstatt am SGH, 3. Dezember 2020

„Um jemandem in Not zu helfen, muss man keine Titel, keine Diplome haben. Man muss nur das Herz an der richtigen Stelle haben.“ Dieses Zitat stammt von Siegmund Pluznik, einem Überlebenden des Holocausts. Er bezog sich auf eine Klofrau, mit der er nie ein Wort wechselte und die ihm dennoch auf seiner Flucht aus Polen das Leben gerettet hat. Solche Geschichten gibt es viele, doch die meisten liegen mittlerweile gemeinsam mit ihren Protagonisten unter der Erde. Auch Siegmund Pluznik starb 2015 im Alter von 90 Jahren, doch seine Geschichte wurde nicht vergessen.

Wir schreiben den 3. Dezember 2020. Im Städtischen Gymnasium Hennef machen sich 12 Achtklässler*innen auf den Weg zu Raum 2.26 für einen Workshop des Vereins „Zweitzeugen e.V.“. Dort finden sie einen Stuhlkreis, ihre Lehrerin Julia Bohlmann und Sarah Hüttenberend, Gründerin und Vorsitzende des Zweitzeugen-Vereins, vor.

Nach einer kleinen Vorstellungsrunde und einem kurzen Wissens-Check zum Thema Nationalsozialismus sollen die Schüler*innen ihren normalen Tagesablauf an die Tafel schreiben. Während die Jugendlichen noch innerlich nach der Verbindung zwischen ihrem Alltag und dem Nationalsozialismus suchen, startet Sarah Hüttenberend eine Power-Point mit einer Auswahl von Gesetzen, die während der NS-Zeit gegen Juden erlassen wurden. Es klickt in den Köpfen der Jugendlichen, als sie mit großen Augen sehen, wie ein Punkt nach dem anderen von ihrem Tagesablauf gestrichen wird. Sportverein, Musikunterricht, Schule all das war für dreizehnjährige Jugendliche im Nationalsozialismus nicht mehr möglich, sofern sie aus einer jüdischen Familie stammten.  Nach diesem Einstieg und der Erkenntnis, dass es Juden damals so ähnlich ging wie den Schüler*innen als ihr Alltag Stück für Stück von der Tafel verschwindet, mit dem wichtigen Unterschied, dass heute alles Theorie ist, damals jedoch bittere Realität, beginnt die eigentliche Ausbildung zum Zweitzeugen.

Natürlich brauchen alle Zweitzeug*innen eine*n Zeitzeug*in deren Geschichte man weitererzählt. Beim Zeitzeugen des Projektkurses handelt es sich um Siegmund Pluznik, geboren 1924 in der polnischen Stadt Bezin. Siegmund war 14, ein Jahr älter als die Schüler*innen, als die Deutschen in Bezin einmarschierten und sein Leben von Grund auf veränderten. Seine Familie musste in ein Ghetto ziehen, er durfte nicht mehr zur Schule gehen und das Essen wurde knapp. Nach einiger Zeit andauernder Unterdrückung und willkürlicher Misshandlungen durch die deutschen Besatzer beschloss Siegmund mit einigen Freunden, sich den Partisanen anzuschließen, ein Wagnis, das er knapp überlebte, viele Andere aber mit dem Leben bezahlten. Schon diese Geschichte von Verrat und unmenschlicher Grausamkeit,  hinterließ die staunenden Achtklässler in einer Art Schock-Zustand. Für Siegmund und einige seiner Freunde aber war es nur der Auftakt zu einer lebensgefährlichen Flucht durch Osteuropa. Ereignisse, die man heute in der Handlung eines Action-Films erwarten würde, spielten sich damals in der Realität ab. Einige davon involvierten die schon erwähnte Klofrau und eine Rasierklinge in Wien, andere eine fiktive Auslandsreise der Tennis Jugend Nationalmannschaft des Deutschen Reiches. Am Ende gelingt Siegmund Pluznik die Flucht nach Istanbul. Anders als die meisten seiner Familienmitglieder überlebt er den Nationalsozialismus – und wird zum Zeitzeugen. In gut zwei Stunden erzählt Sarah Hüttenberend die Geschichte des neuen Lieblings-Seniors der Jugendlichen und beantwortet alle Fragen, die den emotional-berührten Schüler*innen unter den Nägeln brennen.

Auch noch nach der Schule und in den nächsten Tagen unterhalten sich die frisch-ausgebildeten Zweitzeug*innen über die berührende Geschichte, was ihnen von anderen Schüler*innen jedoch nur schräge Blicke einbringt. „Warum würde man sich freiwillig über ein Unterrichtsthema unterhalten? Die NS-Zeit wird doch eh schon zu viel unterrichtet.“ Sarah Hüttenberend hat darauf eine einfache Antwort: „Es wird nicht zu viel unterrichtet, es wird falsch unterrichtet.“ Gegen dieses „falsche Unterrichten“ kämpft „Zweitzeugen e.V.“ seit seiner Gründung im Jahr 2014 an. Über 5.000 Schüler*innen in ganz Deutschland sind mittlerweile Zweitzeug*innen und plötzlich unfassbar interessiert an dem „langweiligen“ Thema im Geschichtsunterricht. Noch nie ist Sarah Hüttenberend auf eine Gruppe gestoßen, die sich nach dem Workshop nicht für die NS-Zeit interessiert hat. Also wo liegt der Unterschied? Im „normalen“ Geschichtsunterricht dreht sich alles um viel zu große Zahlen, viel zu weit zurückliegende Daten und Personen mit viel zu altmodischen Klamotten. In einem Zweitzeugen-Workshop hingegen beschäftigt man sich mit der Geschichte einer Person, man kann sich mit der Person identifizieren, wird schon fast automatisch zum größten Fan des Zeitzeugen und vor allem berührt eine solche Geschichte, man vergisst sie nicht mehr. Siegmunds Geschichte regt jedoch auch zu etwas anderem außer Gesprächen an, und zwar zum Handeln und vor allem zum Helfen. Eine einfache Klofrau hat Siegmunds Leben gerettet und er hat sich auch nach all diesen Jahren immer noch an sie erinnert, dies zeigt: Man muss kein großer, wichtiger Politiker sein, es reicht schon, wenn man im richtigen Moment ein paar Menschen in Not eine Rasierklinge bereit legt.

Matilda Tscherpel, Jg. 8

Die Geschichtswerkstatt bedankt sich bei Sarah Hüttenberend und den Zweitzeugen e.V. für diesen Workshop sowie beim Förderverein und der Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW für die finanzielle Unterstützung.