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Poker, Senf und Diener Lampe: Kant war Mensch!

Dieses Gespräch führte der Journalist Michael Hesse mit dem Kant-Biographen Manfred Kühn. Das vollständige Interview ist bislang unveröffentlicht, Teile daraus wurden im „Kölner Stadt-Anzeiger“ publiziert. Kühn lehrt an der Universität in Boston, wo er den bedeutenden Lehrstuhl von Henry Allison eingenommen hat. Allison gilt in den Vereinigten Staaten als einer der bedeutendsten Philosophen und Kant-Forscher. Sein Rang ist vergleichbar mit dem, den Jürgen Habermas in Deutschland einnimmt. Für seine Kant-Biographie wurde Manfred Kühn mehrfach ausgezeichnet. Das Buch mit dem Titel „Kant. Eine Biographie“ wurde trotz des hohen Anspruchs in der Darstellung ein Verkaufsschlager.

Herr Kühn, immer wenn Kant durch Königsberg wandelte, grüßten die Menschen und richteten ihre Taschenuhr nach ihm. Sah so das Leben eines Genies der Philosophie aus?

MANFRED KÜHN: Der junge Kant hat, wie alle anderen jungen Menschen, sein Leben nicht nach der Uhr gerichtet. Man muss zwischen Kants jungen und mittleren Jahren sowie seinem Leben im Alter unterscheiden. Die von ihm gängige Vorstellung ist das Bild einer Person, die ein mechanisiertes Leben führt. Das gilt aber nur für die Zeit, nach seinem 65. Lebensjahr.

Wie war der junge Kant?

KÜHN: Man kann durchaus sagen, dass er etwas geckenhaftes hatte. An der Universität Königsberg war die Theologie die größte und wichtigste Fakultät. Der Theologen-Habitus war eher dunkel, schwarz gekleidet, sehr seriös. Kant hingegen lief im bunten Rock umher, mit goldener Borde. Er trug ein „postillon d'amour“, ein Schönheitspflaster. Das fiel damals sehr auf. Er wird als galanter Mann beschrieben. Galanterie hatte damals die Konnotation des Höfischen. Kant hatte also höfische Manieren angenommen. Er war ständiger Gast bei der Familie des Grafen Keyserlingk und seiner Frau Charlotte Amelie. Es gibt aus dieser Zeit auch viele Bilder Kants, die zeigen, dass er genauso gut in eine höfische wie in eine akademische Gesellschaft gut gepasst hätte.  

Er war ein Lebemann?

KÜHN: Ja, und er war auch ein sehr guter Billardspieler. Er soll als Student damit sein Geld verdient haben. Wenn es beim Billard nicht klappte, hat er auch Karten gespielt.

Ein Zocker?

KÜHN: Er muss sehr gut gewesen sein beim Kartenspielen, er hatte so etwas wie ein Pokergesicht. Er hatte einen sehr trockenen, nicht typisch deutschen Humor. Zeitweilig war er sogar recht derb.

Kant hatte einige Angewohnheiten, so rührte er seinen Senf selbst an.

KÜHN: Senf war im 18. Jahrhundert eher eine englische Angewohnheit. Man konnte ihn nur in trockener Form kaufen, man musste ihn also mit Essig und anderen Zutaten selber anrühren. Das war ein Einfluss seiner englischen Freunde Motherby und vor allem Green. Green war ein äußerst wichtiger Mann in Kants Leben. Mit ihm hat er jeden Satz der „Kritik der reinen Vernunft“ durchgesprochen. Das zeigt übrigens, dass das gewöhnliche Bild, das man von diesem Buch hat, es sei ein Produkt eines einsam denkenden Geistes, nicht ganz richtig ist. Kant hat es in Konversation mit seinen Freunden geschrieben.

Man sagt, die „Kritik der praktischen Vernunft“ habe er nur für seinen Diener Lampe geschrieben.

KÜHN: Das ist Teil der Karikatur, die Heinrich Heine über Kant verfasst hat. Heine sagt, dass Kant ja Gott in der „Kritik der reinen Vernunft“ abgeschafft hat. Das geht wahrscheinlich zurück auf Aussagen von Moses Mendelssohn, der Kant einen Alleszermalmer genannt hat, der die gesamte Metaphysik in den Boden gestampft und zerstört habe. Der arme Diener Lampe sei darüber so bestürzt gewesen, dass Kant den lieben Gott in der „Kritik der praktischen Vernunft“ wieder erfunden habe. Dort sagt Kant, dass man Gottes Existenz zwar nicht beweisen könne, ihn aber notwendig annehmen müsse, um moralisch handeln zu können.

Was stimmt davon?

KÜHN: Das Verhältnis von Kant zu seinem Diener wird viel zu stark romantisiert. Es war sehr problematisch. Als alter Soldat, der außerdem sehr trinkfest war, bis er schließlich Alkoholiker wurde, hatte er nicht viel mit Religion zu tun. Kant musste Lampe später entlassen, da er sich wegen dessen Trunksucht nicht mehr auf ihn verlassen konnte. Lampe muss ihn sehr grob behandelt haben.

In der damaligen Zeit spielte die Religion eine große Rolle. Welche Bedeutung spielte sie für Kant?

KÜHN: Kant ist in einer pietistischen Umgebung aufgewachsen. Er kam aus einer einfachen Handwerker-Familie. Sein Vater war Riemermeister, die Mutter kam ebenfalls aus einer Riemer-Meisterfamilie. Sie hatte eine recht gute Schulbildung und war eine sehr religiöse Frau. Ihre Religiösität hat ihm sicher gut getan. Der Pietismus, so wie er in dem Collegium Fridericianum praktiziert wurde, ist ihm nicht so gut bekommen. Im Gegenteil. Die Schulzeit war sicher keine schöne Zeit für ihn. Das hat Kant sehr gegen die Art von Religiösität, die Art von Christentum, wie es der Pietismus propagierte, eingenommen.

Hat sich Kant von der Religion abgewandt?

KÜHN: 1775 war er der Religion noch wohlgesonnener als in späteren Jahren. Da geht er noch davon aus, dass der Glaube an Gott Teil der Motivation sein muss, um moralisch handeln zu können. In den 80er Jahren ist das vollkommen verschwunden. Man braucht die Religion nicht mehr, um moralisch sein zu können. Er war von der Religion nicht sonderlich beeindruckt. Beten und Knien kahm ihm nicht getan. Er sagte, wenn es Gott wirklich geben sollte, würde er ihn nicht zwingen, seine Knie zu beugen.

Kann man sagen, dass es bei Kant zwei Revolutionen gab: Eine in seinem Leben und eine in seiner Philosophie?

KÜHN: Durchaus. Es gab eine Krise in seinem Leben, in der Form, dass er sich Gedanken darüber gemacht hat, wer er ist, warum er auf dieser Welt weiterleben soll. Für Kant war es das Ende eines sehr wichtigen Lebensabschnitts. Er hat danach zielstrebiger seine eigene Philosophie verfolgt.

Was führte dazu?

KÜHN: Ich bin sicher, dass sein Freund Green damit zu tun hatte. Wir haben ja von Kant geredet als den "eleganten Magister", der sicher ein Lebemann war. Sein Freund Hamann spricht davon, dass Kant sehr talentiert sei, dass er sich aber wahrscheinlich im Strudel der gesellschaftlichen Vergnügungen verlieren würde.  

Man kann es sich kaum vorstellen.

KÜHN: Eine reale Gefahr für Kant. Aber dann starb plötzlich einer seiner engsten Freunde. Es scheint, dass sich Kants Freundeskreis zu dieser Zeit ebenfalls aufgelöst hat. Ein Umstand, der damit zu tun hatte, dass Kant ein anderes Leben führen wollte. In diese Zeit fällt auch Kants Bekanntschaft mit dem englischen Kaufmann Green. Die „Maximenreiterei“ von Kant, von der man gerne redet, hat sicherlich mit der Bekanntschaft von Green zu tun. Green liebte Maximen.  

Was waren das für Maximen?

KÜHN: Kant aß zum Beispiel als Teil einer diätetischen Maxime nur einmal am Tag. Es gab Maximen darüber, wie lange man essen durfte, über welches Thema zu welcher Zeit geredet werden sollte. Oder: Beim Essen redete man nicht über Philosophie. Er konnte auch sehr böse werden, wenn Leute während des Essens begannen, ihn über seine Philosophie auszufragen. Das alles führte zu einer zunehmenden Mechanisierung seines Lebens.

Wie verlief seine akademische Laufbahn?

KÜHN: Sie war sicher mühsam. Als Student erfuhr er nicht die Anerkennung, die er erwartet hatte. Er musste sehr lange Vorlesungen halten gegen Bezahlung, bevor er 1770 Professor wurde. Zu dieser Zeit war er bereits in Berlin bekannt, wo man ihm u.a. eine Stelle als Bibliothekar angeboten hat. Unter den Studierenden galt Kant als einer von vielen Wolffianern, wie ein russischer Student meinte. Unter der Verwaltung Friedrichs des Großen ist Kant sehr gefördert wurden. Er stand der Regierung Friedrichs II. sehr nahe.  

Wann wurde er berühmt?

KÜHN: Er ist sicher Mitte der 60er bekannt als ein Philosoph von vielen. Aber nicht als einer, der das Gesicht der gesamten Philosophie vollständig verändern sollte. Ein Philosoph in Göttingen wusste wohl, wer Kant war. Die „Kritik der reinen Vernunft“ 1781 erschienen, ist zunächst als ein sehr schwieriges Buch und auch als ein sehr merkwürdiges Buch aufgefasst worden. Die Philosophen der damaligen Zeit wussten nicht so recht, was sie damit anfangen sollten. Von 1785 bis 1800 spielte die Kantische Philosophie eine bedeutende Rolle. Eine relativ kurze Zeit für die Kant-Manie. Danach kamen schon Fichte, Schelling und Hegel.

Spielten Frauen in seinem Leben eine Rolle?

KÜHN: Frauen und damit Ehen waren im 18. Jahrhundert für Akademiker ein größeres Problem als man denkt. Daraus, dass Kant Junggeselle ist, kann man nicht schließen, dass er an ihnen uninteressiert gewesen wäre oder keine Familie haben wollte. Es hat sehr lange gedauert, bis Kant eine feste Stelle hatte, das war 1770 der Fall. Vorher hätte er keine Familie gründen können, weil er die finanziellen Mittel hierfür nicht besaß. Ein Akademiker konnte erst dann eine Familie ernähren, wenn er eine feste Stelle hatte.

Und als er Professor wurde?

KÜHN: Da musste er in seinem Freundeskreis die Erfahrung machen, wie die Ehe seines Freundes, des Bankiers Jacobi, in die Brüche ging. Das scheint ihn abgeschreckt zu haben. Die junge Frau Jacobi hatte auch ein gewisses Interesse an Kant.

Inwiefern?

KÜHN: Es zeigte sich in kokettierenden Briefen an Kant. Man kann durchaus sagen, dass es noch wesentlich offensichtlicher für Kants Umgebung war. So redete man davon, dass Kant sie doch besuchen und gleichzeitig die Uhr aufziehen soll. Das „Uhr aufziehen“ bezog man auf eine Szene aus dem Buch Tristam Shandy: Der Vater von Tristam zieht dort immer die Uhr auf und kommt dann dem ehelichen Geschäft nach. Es kann durchaus als versteckte Anspielung auf eine Beziehung von Kant und Maria Charlotta Jacobi verstanden werden. Auch nicht ganz irrelevant ist, dass Kant später nicht mehr bei Maria Charlottas und ihrem Ehemann erscheinen durfte.  

Hatte Kant ein sexuelles Leben?

KÜHN: Das ist sehr schwer zu sagen. Ich glaube eher, dass es uninteressant war. Es gibt Leute, die sagen, er sei homosexuell gewesen, andere wieder sagen, er sei homophobic gewesen. Sein Diener Lampe sei homosexuell gewesen und habe ihm etwas „angetan“. Kant hatte sicherlich enge Männerfreundschaften. Seinem Freund Krauss schenkte er einen Brillantring. Er sollte das Symbol eines Bundes sein. Ich glaube, dass es eher nach romantischen Prinzipien zu interpretieren ist und nicht so sehr als ein physischer Bund.

Gab es keine große Favoritin?

KÜHN: Das Verhältnis zur Gräfin Keyerslingk ist interessant. Es ist klar bewiesen, dass sich beide sehr gut verstanden haben. Kant verehrte diese Frau. In seiner „Anthropologie“ hat er das deutlich gesagt. Sie hat ihn „mon ami“ genannt. Er hätte sie sicher sehr gerne zur Frau gehabt, aber die Standesunterschiede waren zu groß.